6. Angkor Tom

Die Portaltürme mit den großen Gesichtern, welche nach allen vier Himmelsrichtungen schauen, zeigen jeweils einen Durchgang, der ungewöhnlich hoch ist. Doch wenn wir die Bräuche der Khmer kennen, dann wird diese Höhe verständlich, mussten durch diese Tore doch auch die Elefanten-Truppen mit sehr hohen Ehrenschirmen einziehen können. Ein großes Portal heißt: das Siegestor. Durch dieses marschierten die siegreichen Truppen in die Stadt auf schnurgerader Straße direkt vor die königliche Terrasse. Hier defilierten sie vor dem König, von dem Volke umjubelt und gefeiert. Das waren die großen Tage für die Khmer in Angkor Tom.

Doch trotz Götter- und Dämonenschutz : auch der Feind zog durch diese Tore, ebenfalls vor die königliche Terrasse; dann kamen düstere Tage. Nirgends ist überliefert, welche Schrecken und welcher Terror dann hereinbrachen. Zweimal wurde die Stadt zerstört und eingeäschert. Wieviele Kriegsgefangene durch diese Stadttore abgeführt wurden, wissen nur die Götter. Doch immer noch lächeln die vier Gesichter über den Riesenportalen, und was sie damals gesehen haben, darüber schweigen sie.

In der Mitte der Stadt ist der Bayon-Tempe] aufgebaut, der Mittelpunkt des ganzen Landes. Von hier führen nach den vier Himmelsrichtungen die Hauptstraßen zu den Stadttoren hinaus in alle Provinzen, in fremde Länder und zu benachbarten Völkern.

Wie alle Bauten der Khmer sehr großzügig angelegt wurden, so war auch der Palast des (p36) Königs mit sämtlichen Terrassen, Teichen und Parkanlagen ebenso weitläufig dimensioniert. Die Grundfläche ist über zwei Quadratkilometer. Auf die Stadt entfallen etwa sechs Quadratkilometer, doch waren die Wohnquartiere aus Holz gebaut und sind nun zum größten Teil ausgebrannt oder vermodert. -- Kein einziges Haus ist übriggeblieben. Was heute noch zu sehen ist, das sind die Steinbauten der Paläste und Tempel, die Mauern, Portale und Brücken. Die einzige Holzkonstruktion, die sich bis in unsere Zeit erhalten hat, ist ein riesiges Stadttor aus Teakholz, welches durch den Steinturm vor Regen und Sonne geschützt war.

In Angkor Tom wohnten nebst der königlichen Familie und dem Adel vor allem die Beamten, die Handwerker, das Militär und die Priester.

Die Bauern hatten ihre Häuser außerhalb der Stadt, bei ihren Reisfeldern, in kleinen Siedungen oder auch in Dörfern. Sie waren durch Straßen oder Kanäle mit Angkor verbunden und konnten mit Wagen oder Booten den Markt in der Stadt bedienen.

Viele Überraschungen bietet ein solcher Gang. Plötzlich stehen wir vor einer Löwen oder Elefantenplastik, die, wie zum Feste dekoriert, von Blättern und Lianen umrankt ist. Niemand weiß, wen sie einst beschützen musste. Auch kleine Tempel mit verfallenen Treppenaufgängen versperren den Weg. Man klettert über Hügel und ahnt, daß unter dieser Humusdecke weitere zusammengestürzte Bauten verborgen sind. Vögel und Schmetterlinge fliegen vorbei, Zikaden zirpen, kein Mensch ist weit und breit. Eine umgefallene Buddhafigur mit dem geheimnisvollen Khmer-Lächeln scheint zu sagen : «Nichts ist beständig auf dieser Welt l »