3. Urwaldzauber

Beinahe alle Touristen, die auf ihrer Weltreise Angkor besuchen, werden dem Zauber der Urwaldtempel verfallen, auch wenn sie nur wenig Sinn für Romantik besitzen. Haben sie das Glück, leier einige Tage bleiben zu können, dann dürfen sie sich auch erlauben, bei halbverfallenen Tempeln zu verweilen, um den gigantischen Kampf der Natur mit dem Menschenwerk gewissermaßen mitzuerleben. Hier fühlt sich jeder Besucher in einer anderen Welt, beinahe wie in einem Traum, jedoch mit offenen Augen und hellhörigen Ohren. Irgendwoher kommen Vogellaute, Zikaden sorgen für schrille Töne, aus den Ruinen rufen steinfarbige große Eidechsen Leichter Wind läßt das riesige Blätterdach der Bäume atmen, Sonnenflecken spielen auf dem Gestein, das durcheinandergeworfen herumliegt. Oft sind diese Steinbrocken mit schönen Reliefs versehen oder mit Ornamenten, auf welchen sich im Laufe der Zeit Flechten aller Art festgesetzt haben. Zwischendurch wachsen Farnkräuter und andere Schattenpflanzen. Gespensterhaft sind die Baumriesen, die auf den Tempeln gewachsen sind.

Beinahe hat man den Eindruck, daß Dämonen sich der Tempelbemächtigt hätten. Die Wurzeln, die wie Geisterarme das Gemäuer umklammern, dringen in alle Ritzen, heben und verschieben die schwersten Blöcke, drücken mit Tonnengewicht die Dächer zusammen und versuchen mit ihren Bewegungen, verursacht durch den Wind, alles aus den Fugen zu bringen. Und es gelingt Ihnen! Tausende und Abertausende von Blöcken, von Plastiken liegen am Boden und bilden Schutthügel. Schöne Schmetterlinge fliegen darüber hin, lassen sich da und dort nieder, um ihre Farbenpracht zu zeigen. Wer Augen hat zu sehen, der findet auch Spuren von allerhand Getier, das hier bei Tag oder Nacht im Lebenskampf oder auf Futtersuche ist. Eichhörnchen, Marder, Wildkatzen -- alle lassen ihre Fußabdrücke zurück. Ja sogar Leoparde und Tiger kommen hier vor.

Auch sie finden da ihre Opfer, denn Reh und Hirsch sind an diesen Orten häufig anzutreten. Doch der Tourist wird kaum etn'as von diesem Wild sehen. Nur wer Zeit hat und sich aufs Wildbeobachten versteht, wird überrascht sein, lvieüel Leben in diesen Ruinen zu finden ist. Die große Angst vor Schlangen ist unbegründet, obschon diese Reptilien hier oft vorkommen. Aber ein Besucher wird kaum eine lebende Kobra sehen, höchstens ein leblosen Exemplar, das totgeschlagen worden ist.

Im Walde versteckt sind viele kleine Dörfchen, in denen Bauern oder Arbeiter der Regierung wohnen, die bei dem Straßenbau und beim Roden mithelfen. Einige von ihnen, die harte Arbeit nicht so lieben, verkaufen bei den Tempeln selbstverfertigte Waffen und Musikinstrumente, Bambusglocken und Hornschnitzereien. Barfuß stehen sie irgendwo im Hintergrund, um lautlos, wie aus dem Boden gezaubert, vor dem Fremden zu stehen. Beinahe jeder TouÜst ist ausgerüstet hit Foto- oder Kinoapparat und so beschäftigt mit Kamera und Belichtungsmesser, daß er gar nicht bemerkt, woher plötzlich zwei oder drei dieser Gestalten gekommen sind. Doch sie sind harmlos, auch wenn sie mitunter düster aussehen. Wenn man von ihrer Habe nichts kaufen will, bleiben sie anständig, wünschen gute Reise und sagen auf Wiedersehen. Jeder größere Tempel hat einen Wächter, der oft in einem Versteck sein Amt ausübt und die Besucher beobachtet. Er sorgt auch dafür, daß die Wege sauber gekehrt sind, und Touristen, die sich verirren, den Rückweg zu ihrem Wagen wieder finden.

In den dunkeln Gängen und Hallen der Ruinen ist die Stimmung oft unheimlich. Die feuchtwarme Luft, die fehle Beleuchtung, die Gräser, die überall hereinwachsen, und was am stärksten wirkt - die dicken Wurzeln, die sich wie Riesenschlangen durch die Mauern zwängen, all dies wirkt bedrückend. Zudem ist mit unter ein unangenehmer Geruch vorhanden, denn in den Kuppeln und Dachfirsten wohnen oft Tausende von Fledermäusen, die lärmend und kreischend ihre Anwesenheit bekunden. Ohne Rücksicht lassen sie ihren Kot hinunterfallen. Abends kommen sie hervor; bei großen Tempeln erscheinen ganze Wolken dieser Insektenjäger und verschwinden in raschem Flug im Nachthimmel. Auch beobachtete ich Eulen, die iln Gemäuer ihre Schlafstellen hatten. Manchmal waren sie gar nicht scheu, sondern schauten verwundert auf mich hinab. Glücklich, wer nicht an hexen und böse Geister glaubt, sondern an die einstigen Bewohner, an die Könige und Prinzessinnen, die, in farbenprächtige Brokate gekleidet, diese Tempelbewohnten. In Gedanken muß man sicll die Bauten und Parks vorstellen, schön gepflegt, mit Blumen und fröhlichen Menschen, ganz frei in offener Landschaft, ohne Urwald.

Ein leichter Wind streicht durch die Wipfel der Bäume, nein, es ist kein Wind, eine Affenherde ziehe vorbei. Das ganze Blätterdach ist in Bewegung, und dürre Äste fallen herunter. Es scheint, dass zurzeit nichts Freßbares zu finden ist, sie verschwinden so rasch, wie sie gekommen sind.

Und wieder bin ich allein, irgendwo in einem Tempelhof. Ein steinerner Löwe mit offenem Rachen hält hier Wache, Nagas, stilisierte Schlangen umgrenzen die Treppe, zwei große Wächter in Stein stehen links und rechts vor dem Eingang, schon über 500 Jahre bang. Sie wachten dazumal über die fröhlichen Menschen, die arbeiteten und Feste feierten, die liebten und trauerten. Diese Tempelwächter hatten jedenfalls auch zugeschaut, als nach verlorenem Kriege die Sieger hier ein Blutbad anrichteten, als die Frauen als Sklavinnen fortgeführt und der ganze Tempel ausgeplündert wurde. Stumm stehen sie da mit ihrem Geheimnis; sie wurden ja nicht zum Plaudern aufgestellt, sondern lediglich als Wächter des heute noch vorhandenen Tempels.

Nach dem Untergang der Khmer bildete sich auf den Dächern an feuchten Stellen Moos. Tausende von kleinen Samen der Bäume wurden vom Winde hergeweht, einer verfing sich im grünen Polster. Bald fenden seine dünnen Würzelchen Nahrung in den Steinfugen. Immer weiter suchten diese Wurzeln ihren Weg zum Nährboden, und größer wurde oben das Stämmchen, bis die Wurzelspitzen hinunter in die Erde reichten. Dann kam Kraft und Leben in das Wachstum des Plänzchens. Aus dem kleinen mageren Bäumchen wurde ein Baum und hernach ein Urwaldriese. Die Wurzeln wurden dick wie Arme, oft dicker als der Stamm. Wie Polypen umklammerten sie die Gebäude. Es greift ans Herz, wenn man den Würgegriff dieser Wurzeln sehen muß. Aussichtslos ist das Baumwerk gefangengehalten, und unweigerlich teilt es sein Schicksal mit dem Baume, sollte der Sturm diesen zu Fall bringen. Weitere Bäume wuchsen im Hofe, und ihre Wurzeln suchten unter den Steinplatten nach Nahrung; ohne Mühe hoben sie die gewaltige Pflästerung, schoben schwerste Quadersteine aus ihrer Stellung. Auch drangen sie unter die großen Bauten, drückten ohne Mühe ganze Flügel dieser Tempel empor und brachten haushohe Türme zum Einsturz. Unglaublich ist die Kraft der Wurzeln, die als kleine Würzelchen so harmlos aussehen und im Alter hundert Tonnen Stein mit Leichtigkeit verschieben können.

Hier ist die Welt für Märchenerzähler, hier glaubt man Kobolde herumhuschen zu sehen, man glaubt an unsichtbare Hände, die diese Wurzeln leiteten. Oft schmiegen sie sich an Türen und Fenster, als wüßten sie den Zweck dieser Öffnungen, und aus lauter Rücksicht wurde der Zugang offen gehalten. Dann wieder macht es den Eindruck, als würde dem Bauwerk geholfen, indem sie mit vielen Armen die Kuppeln umgeben, gleichsam einbinden, damit kei11 Stein herausfallen kann. Wie große Schlangen ziehen solche Wurzeln zwanzig bis dreißig Meter horizontal weiter durch Gänge oder an Dachfirsten entlang, um dann plötzlich senkrecht im Boden zu verschwinden.

Als wäre alles nur Spiel, als machte es ihnen Spaß, diesen Steinbauten den Meister zu zeigen . . . Und wenn dann gar Bäume entstehen, wahre Riesen, dann überhäuft uns das Grauen, dann erkennt man das wahre Gesicht und die Absicht. Und jeder Sturm gibt dem Baum Gelegenheit, wieder einen Teil des Tempels zusammenzureißen. Vor vielen Jahren betrat ich an einem frühen Morgen den auf Bild abgebildeten Tempelhof.

Dazumal war er noch mit Gestrüpp und Bäumen verwachsen, doch in dessen Mitte entdeckte ich zwei Männer, blutbespritzt. Sie zerlegten einen Hirsch, den sie eben erlegt hatten. Lächelnd begrüßten mich die beiden Jäger, und mit ihren Messern teilten sie den Körper des toten Tieres in viele kleine Stücke. Noch nie war mir -- Sein und Vergehen – so drastisch vor Augen geführt worden, wie hier in dieser Umgebung.

Hier machten Götter und Dämonen auch Jagd auf Tempelbauten, ihre Waben waren Bäume, Wurzel, Stürme, und die vielen Schutthügel zeugten von der Macht des Stärkern. Heute ist der Platz gerodet, auf den Dächern stehen noch einige Bäume, deren wurzeln wahre Giganten geworden sind.

Was sind denn das für Urwaldbäume, die dieses Zerstörungswerk so gründlich durchführen? Die einen nennen sie Fromagers, die andern Ficusarten, und manchmal werden sie Wollbäume genannt. Zurzeit ist ein Botaniker in Angkor, der die vielen Arten der vorkommenden Bäume bestimmen soll. Jedenfalls ist Angkor mit seinen vergessenen Urwaldtempeln der einzige Ort auf unserer Welt, der diesen Zweikampf -- Natur gegen Menschenwerk -- so erschütternd vorführt und Situationen schafft, deren Dramatik uns erschauern läßt.